21.12.2023, Community Kitchen, TRC Ušivak
„Je viens du Congo“, sagt Clara. Ich komme aus dem Kongo. Sie sagt es so, als wäre nun klar, warum sie hier sitzt, in der Gemeinschaftsküche des Familienflüchtlingscamps in Sarajevo. Eine Erklärung hält sie nicht für nötig, und ich frage auch nicht danach. Mir fällt ein, was mein Politiklehrer in der Schule immer gesagt hat: Der Kongo sei ein Beispiel für einen „failed state“, ein Gebiet, in dem das Prinzip Nationalstaat versagt, der seit Jahren nicht zur Ruhe kommt: Nachdem das Land erst grausamer Privatbesitz Leopolds von Belgien und dann belgische Kolonie gewesen ist, folgte eine Diktatur der anderen; es ist ein Land, das zerfällt, wegen Rohstoffausbeutung, Kriegen zwischen Rebellengruppen, Land, Wasser, Rechthaberei und Macht.
„Je viens du Congo“ steht für einen Kontext, von dem Clara denkt, dass ich ihn kennen müsste, weil er für sie lebensfeindlich war, für viele ist. „Je viens du Congo“ ist nicht nur eine Information, es ist ein Urteil.
In der Gemeinschaftsküche am Rande Sarajevos ist es ungemein laut, überall rennen kleine Kinder herum, auf den Herden brennt das Fett sich einen Weg in die Kochplatten. Und mittendrin auf einem Plastikstuhl sitzt Clara, eine kleine, rundliche Frau, vielleicht in den Dreißigern, mit blondierten Cornrows, hellbrauner Haut und ganz ruhig. Sie spricht gut französisch, ohne deutlich hörbaren Akzent.
Clara kommt aus Kinshasa, der Sechzehnmillionenhauptstadt Kongos. 2019 hat sie zusammen mit ihrem Mann und den zwei Kindern den Kongo verlassen, sie ist seit vier Jahren unterwegs.
Von Kinshasa aus fliegt sie nach Istanbul in die Türkei. Das hört man oft. Für die Türkei bekommen viele Menschen aus vielen Nationen leicht Visa. Von Istanbul geht sie aber nicht auf der Balkanroute weiter nach Bulgarien, sondern kauft Tickets für ein Boot nach Griechenland.
„Boot“, das sagt sie mit einer Verachtung in der Stimme, die vorher nicht da war und für sie eigentlich unüblich ist. Clara spricht ruhig und ernst, sehr gefasst, und sie schaut ihrem Gegenüber während des Sprechens in die Augen. Es ist leicht, Clara in die Augen zu schauen – sie hat ruhige braune Augen mit einer ungewöhnlichen Tiefe, Augen, die sagen, sie hat viel gesehen. Traurige Augen. Aber es ist keine wütende Traurigkeit, eher eine nachdenkliche. Wenn man Clara zuhört, kann man den Eindruck gewinnen, dass sie froh ist, zu sprechen, froh ist, dass es Menschen gibt, die sich genug für sie interessieren, um ihr zuzuhören, dass sie froh ist, ihre Geschichte mit jemandem teilen zu können, der noch mit ihr mitfühlen kann.
„Das sind keine ‚Boote‘“, sagt Clara, „die sind komplett zerlöchert.“ Alte, hoffnungslos überfüllte Gummiboote. Damit wollte sie über das Mittelmeer nach Griechenland. Eine Überfahrt kostet 200 Euro pro Person, die Familie bezahlt also 800 Euro. Am 02. Februar 2020 steigen sie ein. Clara ist schwanger.
Die „Skipper“ dieser Boote heißen Dhikki, berichtet Clara, sie navigieren mit Google Maps über das Mittelmeer.
An diesem zweiten Februar, kurz vor Corona, ist das Wetter schlecht, die Zeichen stehen auf Sturm, der Wind peitscht das Meer auf. Durch die Löcher des Gummibootes läuft Wasser, das die Menschen wieder herauszuschöpfen versuchen. Natürlich ohne Erfolg.
„Die Wellen reißen dich aus dem Boot heraus ins Wasser“, sagt Clara. Sie redet ruhig, die Hände im Schoß gefaltet. „Manche konnten sich nicht festhalten“, sagt sie. „Das Wasser hat die Menschen an den Felsen zerschmettert. Da war eine Mutter mit einem Baby. Die Mutter ist ins Wasser gefallen und wurde gegen einen Felsen geschmettert. Das Baby hat überlebt.“ Dann, sagt sie, sei sie selbst ins Wasser gefallen. Und wer ins Wasser fällt, hat keine Chance.
«J’ai pensé que ma vie est finie», sagt sie und schaut weg. Ich habe gedacht, ich sterbe. Es war Februar, Winter. Das Wasser war kalt. Plötzlich kann Clara einem nicht mehr in die Augen sehen.
Aber du sitzt hier, sage ich. Wieso sitzt du noch hier?
Sie lächelt.
„Ein arabischer Mann hat sein Hemd ausgezogen und mich damit zurück ins Boot geholt. Und im Boot", sagt sie, "schaue ich an mir herunter und ich sehe, wie das Blut fließt." Sie verliert ihr Baby.
Sie schaut weg und redet eine Zeit lang nicht mehr. Es ist das einzige Mal, das ihre Stimme lebhafter wird, während sie berichtet, wie sie ihr Baby verloren hat, das einzige Mal, dass man Schmerz hören kann. Während sie von ihrer Fehlgeburt erzählt, scheint sie so tief in der Vergangenheit und in ihrem Schmerz zu sein, in einem so privaten Schmerz, dass sie den Gedanken daran in ihren Augen nicht teilen kann.
Am Ende rettet sie die türkische Küstenwache.
Im Frühsommer versucht sie es noch einmal. Es gibt keine Probleme, kein einziges.
Ich kann nicht glauben, dass du hier sitzt, sage ich. Dass du das überlebt hast. Das war so riskant. Clara schaut mich an, lächelt, halb wissend, halb schmerzlich, freundlich und ernst.
Sie will nach Frankreich, wegen der Sprache. Nach vier Jahren ist sie in Bosnien, vor den Toren der EU, und sie sagt: „Oui. Mais le risque n’est pas fini.“
Es ist noch nicht vorbei.